Die Welt ist eine Telefonzelle
„Ey Digga, ruf ma an. Ey mein Handy is zu teua Allah.“
„Und dann habe ich gesagt, weißt Du, er soll sich mal warm anziehen, hab ich gesagt“
„DA MÜSSEN SIE HALT NOCH MAL ANRUFEN: ES KANN DOCH NICHT SEIN; DASS UNSERE FIRMA SO VIEL GELD AUSGIBT UND DANN KEINEN SERVICE BEKOMMT“
„Ey, das mit mein Händy wird escht teuer Digga. Ruf misch ma an Allah. Ey echt“
„Und weißt du, dann habe ich ihm auch noch gesagt, weißt du, er soll sich nicht immer so Scheiße benehmen. Hab ich gesagt“
„JETZT RUFEN SIE DA DOCH BITTE AN“
Kein Chance zu entkommen.
Manchmal denke ich, dass sich diese Menschen extra den Bus oder die Bahn aussuchen um zu telefonieren, denn da kann niemand weg.
Wer von A nach B will, kann nicht zwischendurch aussteigen.
Und so gucken wir eben nur genervt.
Und die Mobiltelefon Besitzer aller Länder schauen genervt zurück.
Als wollten sie sagen: „Warum stört ihr uns beim Telefonieren“.
Da fällt mir etwas ein, das mich während meines Studiums sehr beeindruckt hat.
Es ging um Emissionen. Und zwar die eines Schweinemastbetriebes.
Steht ein solcher Betrieb irgendwo und ein Häuslebauer stellt seine Datscha direkt daneben, dann hat er den Gestank zu dulden. Steht ein Haus auf weiter Flur und ein Schweinemäster will seinen Betrieb direkt daneben aufmachen, dann bekommt er Auflagen zur Begrenzung seiner Emissionen. Nach dem Motto: wer zuerst da war…
Also, wer war jetzt zuerst da?
Was ist, wenn ich zuerst in der Bahn war und der Telefonierer kommt dazu?
Müssen er oder sie sich dann Auflagen gefallen lassen?
Und wie setze ich diese durch, wenn es sich bei dem Telefonierer um einen glattschädeligen, muskelbepackten, uneinsichtigen Wrestler von 150 Kilo handelt?
Nein, so kann ich der Sache nicht beikommen.
Schließlich ist es doch ganz einfach: Rücksichtnahme kann von allen Menschen erwartet werden, die Geräusche oder Gestank verbreiten.
Das gilt für Viel- und Lauttelefonierer, wie für Seifeverweigerer.
Trotzdem ist es ein Phänomen.
Ein schlauer Demograf hat ausgerechnet, wie viele Mobiltelefone in Deutschland unterwegs sind und die Anzahl erreicht fast die Anzahl aller Einwohner dieses Landes. Was den Mann zu der kühnen Schlussfolgerung verleitete, dass jeder Mensch so eines hätte.
Statistisch gesehen zumindest.
Aber wenn ich die hippen Youngster sehe, die sich jedes halbe Jahr ein Neues kaufen, dann hinkt diese Statistik. Und zwar an der Realität vorbei.
Links vorbei.
Vielleicht
Zurück zum Thema.
Immer mehr Menschen haben also ein Mobiltelefon.
Und sie können damit jederzeit und überall telefonieren, wenn sie wollen.
Rein sachlich betrachtet könnte jeder Mensch der so ein Telefon hat den ganzen Tag telefonieren.
Aber warum sollte er das tun?
Warum telefonieren manche Menschen so viel und an öffentlichen Orten.
Ich erinnere mich an Telefonzellen.
Das waren postgelbe Kabinen in denen ein Telefon hing, und das man benutzen konnte, wenn man telefonieren musste und nicht zuhause war.
Schließlich wurden die Häuschen zu allem missbraucht, wozu sie nicht gedacht waren und alsbald blieb rein designtechnisch nichts anderes mehr übrig, als eine Stahlsäule, ein winziges Dächlein rechts und links eine schmale Plastikwand und natürlich das Telefon nebst Wählwerk.
So verwandelte sich das Telefonhäuschen von der abgeschlossenen Privatkabine in ein halb öffentliches Fernsprechinstrument.
Und je weiter die Zeit fortschritt, desto weniger Teile hatte das Telefon im Freien noch.
Schließlich stehen heutzutage nur noch die Säule ohne Dach und ein Hörer und eine Edelstahltastatur an einigen ausgewählten Plätzen herum.
So vollzog sich für alle sichtbar der Weg von der Individualität zur Kollektivität; von der Abgeschiedenheit der Privatsphäre zur Schaustellung der Individualität.
Und genau diesen Weg setzt das Mobiltelefon fort.
Telefonieren ist nicht mehr Ausdruck von privatem, höchst intimem, wie Briefeschreiben oder leisem, vertrauten Reden, sondern pure Öffentlichkeitsarbeit am eigenen Ego.
Telefonieren ist jetzt für alle sichtbar.
Es gibt keine Geheimnisse mehr.
Die Zeiten, in denen man sich zum Telefonieren in eine Kabine zurückzog und schamhaft die Tür zuzog sind vorbei.
Heute wird aus niemandes Herz mehr eine Mördergrube gemacht. Niemand soll die verstaubten Werte der Vergangenheit beweinen, als es noch so etwas wie Privatsphäre gab.
Und deswegen ist Telefonieren öffentlich geworden.
Wer telefoniert muss sich nicht mehr verstecken.
Wer telefoniert kann das heute tun, wo immer er will und wann.
Tatsächlich habe ich während meiner langen und erlebnisreichen Zeit des Bus und Bahnfahrens so viele Gespräche mehr oder minder mitgehört, dass ich am Ende nicht wusste, ob ich selbst Zuhörer am anderen Ende war oder eben nur zwangsläufiger Mithörer. Mitunter redete der Telefonierer derart nah an meinem Gesicht, dass ich das Gefühl hatte, von mir würde eine Antwort erwartet.
Ich schweife ab.
Die Frage, die sich mir stellt ist die, ob das Telefon Auslöser oder Beiträger war.
In Zeiten, in denen immer mehr Menschen eine narzisstische oder teils exhibitionistische Ader an den Tag legen, frage ich mich, was der Grund war oder ist.
Hat DIE Gesellschaft Mitglieder manipuliert und ihnen erfolgreich suggeriert nichts zu sein und nichts darzustellen, wenn sie sich nicht darstellen? Oder sorgt das viel beschimpfte Privatfernsehen dafür, dass der Wunsch sich öffentlich zu präsentieren auch vor einstmals peinlichen Dingen nicht haltmacht?
Ich glaube, das ist eine Frage für ein Menschenleben.
Und es ist ein bisschen die Frage nach dem ersten Erscheinen von Henne oder Ei.
Welche Frage hat das Mobiltelefon dabei gespielt.
Aus meiner bescheidenen Sicht war es ein Teil des Ganzen.
Allein hätte das Mobiltelefon keine solche Verbreitung gefunden. Eines zu haben und telefonieren zu können wäre sicher ein Verkaufsargument, aber was nutzt eine Möglichkeit, wenn man sie nicht nutzt?
Also wurde auch dem Telefonieren eine Art Öffentlichkeitskult verpasst. Wer öffentlich telefoniert ist hip und jung und begehrt und lebt den Zeitgeist, unterwirft sich keinen gesellschaftlichen Beschränkungen.
Fazit: Jeder der ein Mobiltelefon hat, muss es mindestens drei Mal in 10 Minuten herausziehen und damit telefonieren oder sinnreich damit herumspielen.
Zeig was du hast!
Immerhin ist das Mobiltelefon damit ein Teil einer Welt, die immer öffentlicher wird.
Und ich denke hier bekommt meine Theorie Futter aus anderer Ecke.
Wenn man seine Gedanken, die man beim Telefonieren zweifellos hat, so öffentlich macht, dass man billigend in Kauf nimmt, dass sie andere aufnehmen können, dann ist man doch davon überzeug ein Mensch zu sein, der keinen Unterschied mehr macht zwischen der Individualität und der Kollektivität.
Anders geschrieben: wer so öffentlich redet, darf sich nicht wundern, wenn die eigenen Gedanken keine Intimsphäre mehr haben.
Wird die Intimsphäre dann kleiner (als früher) oder verlagert sie sich nur?
Um das zu ergründen, muss man der Frage nachgehen, ob es etwas gibt, worüber Menschen am Mobiltelefon niemals sprechen würden.
Die Antwort heiß aus eigener Erfahrung: wohl kaum! oder deutlicher: Nein!
Gibt’s nicht! No way, auf keinen Fall.
Ich habe die Menschen schon über alles sprechen hören.
Über wirklich alles !
Und während ich rote Ohren bekam, entspannte sich der Sprecher, der soeben etwas über seine ekligsten Geschlechtskrankheiten erzählt hatte, als hätte er grad ein gutes Glas Wein getrunken.
Puh.
Die Intimsphäre hat sich nicht verlagert.
Sie scheint kleiner geworden zu sein.
Das erklärt auch den Konflikt zwischen Alt und Jung. Es sind die Schamgrenzen deren Größenunterschiede da aufeinander prallen.
Zurück zum Mobiltelefon.
Wenn immer mehr Menschen so ein Ding haben und sich immer mehr Menschen über immer mehr Dinge unterhalten und es keinen Ort auf der Welt gibt, an dem sie nicht sein können (außer vielleicht Nordkorea), dann gelange ich als Nicht- oder Nicht-gerne- Telefonierers bald in eine Art Minderheitenstatus.
Gilt dann für mich so eine Art Minderheitenschutz?
So eine Art AGG?
Wohl nicht.
Vielmehr werde ich jeden Tag Zeuge von Gesprächen, die ich gar nicht hören will.
Mich interessieren nicht die Darmkoliken von Tante Ilse, nicht die geilen Tussen der coolen Sau am anderen Ende und mich interessiert auch nicht, welche Depotkosten der blasierte Rechtsanwalt bei welcher Bank bezahlen muss.
Ich will‘s schlicht nicht wissen!
Für mich hat Telefonieren in der Öffentlichkeit immer noch etwas altmodisch schamhaftes. Ich will nicht, dass alle Welt erfährt, wie gern ich meine Freundin habe und ich mag auch nicht lange telefonieren, wenn ich weiß, dass dutzende Menschen mit ihrem Ohr an meinem Telefon kleben.
Vielleicht sterbe ich bald aus.
Dann wird die Welt eine Telefonzelle.
Wenn sie es nicht schon ist.
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