Freitag, 9. November 2012

Drängler

Er drängelt.
Und er schiebt.

Weil ich keinen Euro oder eine andere Münze, und Nein, auch keinen Einkaufschip habe, musste ich mir mit einem großen, leeren Karton behelfen, in dem zuvor in Folie eingewickelte Eisbergsalatköpfe ihr tristes Dasein fristeten.

Also stehe ich an der Kasse mit einem vollen Karton, den ich aufgrund der Größe des Kartons und meines Einkaufes, beidhändig tragen muss.
Ich habe keine Hand frei um den Drängler abzuwehren; habe keine Hand frei um ihn von mir zu schieben. Ich stehe, gefühlt, eingekeilt zwischen Vordermann, Transportband und Drängler.
Meine Tasche auf meinem Rücken wird immer wieder angestoßen und mir ist warm in meiner dicken Winterjacke.
Wer einmal in einer Schlange vor einer Kasse steht und wer behauptet es würde ihn nicht stören, wenn er gedrückt oder geschoben würde oder was besonders perfide ist: mit dem Einkaufswagen in die Hacken gefahren, der lügt.
Und gerade Abends, wenn man einen Einkauf, der einem schon wegen der Verpflichtung lästig ist, durchstehen muss, dann sind Störungen besonders perfide.
Ich fühle mich dann, als würde mich nach einem 30 km Gewaltmarsch noch jemand anweisen den Mülleimer raus zu tragen.
Irgendwann will ich einfach nicht mehr.
Ich will keinen Ärger, ich will nicht mehr warten, bis ich mich endlich auf der Couch lümmeln kann und ich will vor allem keinen Menschen, der mich in meiner Ruhe stört.
ICH WILL KEINE DRÄNGLER !

Aber er drängelt trotzdem weiter.
Sein Karton, den er ebenfalls in Ermangelung eines Wagens vor sich her trägt, schabt immer wieder unangenehm an meiner Tasche auf meinem Rücken.
Wenn ich mich jetzt umsehen würde, dann würde ich sicher noch nervöser werden.
Ich will mich nicht umdrehen.
Ich will mich nicht aufregen.
Und ich will, dass das Gedrängel aufhört.

Aber er kennt kein Erbarmen.
Gehe ich in der Schlange einen Schritt nach rechts oder links und versuche meine Tasche aus der Schusslinie zu bringen, dann stellt er sich so hin, dass sein Karton mit der Kante an meiner Tasche entlangquietscht.
Nein, ich darf mich jetzt nicht umdrehen.
Wenn ich mich jetzt umdrehe, dann machen sich vielleicht die schweren Salamiwürste in meinem Karton selbständig…

Endlich bin ich an der Reihe.
Ich stelle eine Kante meines Transportkartons auf die metallene Kante hinter das
Transportband um eine Hand für die Entladung frei zu haben. Selbst jetzt drängelt mich der Drängler mit seiner Kiste.
Kaum, dass ich meinen letzten Artikel auf dem Band zum Liegen gebracht habe und erleichtert den Karton in einer Hand schlenkern lassen kann, da knallt er seinen Karton auf meine Salatgurke, die vom Bandende ungefähr 3 Millimeter entfernt liegt und seinem Karton mit aller Geschicklichkeit, der sie fähig wäre, gar nicht ausweichen kann.
„Ich darf meinen Karton mal hier abstellen“ grunzt eine Stimme und er sieht mich herausfordernd an.
Hat er mich gefragt, ob er meine Gurke zerquetschen darf?
Hat er mich gefragt, ob er seinen Karton abstellen darf, weil er einen Krampf in der Hand hatte?
Hat er irgendetwas Höfliches gesagt?

Wenn Ja, dann hat er wohl nicht die Muße auf eine Antwort zu warten.

Es ist auch eher eine Behauptung, die keinen Widerspruch duldet im verklärenden Gewand einer Frage.
„Wenn sie meine Salatgurke heil lassen gern“ antworte ich betont höflich.

Wir stehen uns jetzt direkt gegenüber.
Seine Fähigkeit Distanzen abzuschätzen ist immer noch unterentwickelt.

Hinter ihm ist ein Platz von etwa einem Meter zum nächsten Kunden, aber er steht mir fast auf den Füssen.

Er ist etwa 3-5 Zentimeter kleiner als ich, riecht nach einem männlichen, eher ältlichen After Shave und einer Nuance Tabak-Schweiß-Alkohol und sieht mich herausfordernd an.
„Ich hab ja wohl höflich gefragt“ pampt er los und ich sehe in seinen Augen das Bedürfnis kleine Kinder und kleine Hunde zu schlagen.
Aber dann läuft er zur Höchstform auf „Sie haben sich schon die ganze Zeit immer wieder so blöde umgeguckt“
Das ist dreist.
Dafür hätte er auf jeden Fall einen Schlag mit der Salami verdient.
„Und das finden sie jetzt höflich?“, frage ich ihn und sehe ihm direkt ins Gesicht.
Er windet sich.
Wäre ich ein Kind gewesen oder eine wesentlich kleinere Person, hätte er bestimmt schon seine Faust herausgeholt und zugeschlagen.
„Dann entschuldige ich mich“ presst er heraus und dreht sich um.
Sein Ton ist dabei so inbrünstig entschuldigend wie der des Hunnen Attila während einer Völkerschlacht.
Ich stehe betont lässig vor der Kasse und warte darauf, dass sich mein Einkaufsmengentrennstab auf dem Transportband in Richtung Scanner vorschiebt.

Er steht wenige Zentimeter von mir entfernt und überlegt sich krampfhaft, welche verbale Attacke er noch anbringen könnte, bevor ich diese Arena verlasse. Ist er ein „Nachrufer“; ein „Hinterherschreier“ der sich Luft macht, wenn der andere fast außer Sichtweite ist?
Keine Ahnung !

Während ich meinen Einkauf wieder in die Kiste stapele habe ich keine Zeit und keine Lust ihn zu beobachten. Ich muss mich auch darauf konzentrieren, dass mein Gemüsefond nicht auf meine Salatgurke drückt und die Äpfel nicht unter den Dosen Tomatensaft landen.

Dann habe ich ihn auch schon vergessen.
Ich packe meine Sachen an einem Packtisch in meine Tasche und möchte nicht mehr an ihn denken.
Ich will nicht sehen, was er tut und wohin er geht.
Menschen wie diese will ich überhaupt nie wieder sehen.
Sie sollen einfach aus der Tür gehen und verschwinden.